• Was steckt „hinter dem Gesetz“? – Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz" analysieren und deuten
  • anonym
  • 17.03.2025
  • Deutsch
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Pa­ra­beln un­ter­su­chen

Eine Pa­ra­bel ist ein er­zäh­len­der, gleich­nis­haf­ter Text, der eine ab­stak­te Vor­stel­lung oder Aus­sa­ge bild­haft dar­stellt. Sie ist einem Ver­gleich ähn­lich, der je­doch zu einer selbst­stän­di­gen Er­zäh­lung er­wei­tert wurde. Die Pa­ra­bel ist eine Form ler­haf­ter Prosa.



Pa­ra­beln ent­hal­ten eine Bild- und eine Sach­ebe­ne. Meist gibt es keine ex­pli­zi­ten Hin­wei­se zur Ver­bin­dung von Bild- und Sach­ebe­ne. Die Le­sen­den stel­len die Ver­knüp­fung der Ebe­nen selbst her.

Bild­ebe­ne =

Dar­stel­lungs­ebe­ne



  • das tat­säch­lich Er­zähl­te

  • die kon­kre­te Hand­lung, das Ge­sche­hen





Sach­ebe­ne =

Deu­tungs­ebe­ne



  • der über­tra­ge­ne Sinn

  • die abs­trak­te Vor­stel­lung oder Aus­sa­ge

  • eine mög­li­che Lehre





ter­ti­um com­pa­ra­ti­o­nis =

Schnitt­stel­le von Bild- und Sach­ebe­ne





Ma­te­ri­al­samm­lung

[1] Eine an­de­re, eben­falls im Zu­sam­men­hang mit Vor dem Ge­setz schon be­spro­che­ne Mög­lich­keit, auf Be­zie­hungs­fal­len zu ant­wor­ten, be­steht darin, schwer ent­schlüs­sel­ba­ren Bot­schaf­ten der Um­ge­bung da­durch zu ent­ge­hen, daß man sich auf sich selbst zu­rück­zieht. Die­ser Me­cha­nis­mus zeigt sich deut­lich im Ver­hal­ten des Man­nes vom Lande, der sich gegen Ende sei­nes Le­bens vor­wie­gend mit sich selbst und den Flö­hen des Tür­hü­ters un­ter­hält, die ihm in kei­ner Weise ge­fähr­lich wer­den kön­nen. Da­durch ver­rin­gern sich so­wohl die An­griffs­flä­chen als auch die An­zahl mög­li­cher Kon­flik­te und Fehl­deu­tun­gen. Für einen flüch­ti­gen Be­ob­ach­ter mag der An­schein ent­ste­hen, er habe einen zu­rück­ge­zo­ge­nen, schweig­sa­men Men­schen vor sich.





[2] Noch ver­häng­nis­vol­ler ist je­doch der Ent­schluss des Man­nes, wegen der ge­fürch­te­ten Schwie­rig­kei­ten von nun an un­tä­tig auf die Er­laub­nis zu war­ten. Da­durch ver­liert er sein ur­sprüng­li­ches Ziel aus den Augen, ver­schwen­det seine Zeit, ja sein Leben auf der un­ters­ten Stufe sei­nes Da­seins, er­schöpft sich in ober­fläch­li­chen und sinn­lo­sen Ge­schäf­tig­kei­ten, die alle auf der­sel­ben fla­chen Ebene ver­har­ren, weil er in­zwi­schen den un­ters­te Tür­hü­ter für das ein­zi­ge Hin­der­nis hält.





[3] Das Ge­setz soll, so glaubt der Mann vom Lande am Be­ginn der Pa­ra­bel, jedem und immer zu­gäng­lich sein. Wie ihn der Tür­hü­ter be­lehrt, ist es zwar mög­lich, in das Ge­setz ein­zu­ge­hen, „jetzt aber nicht“, was her­kömm­lich be­deu­tet: Spä­ter wird es mög­lich sein. Spä­ter er­fährt der Mann von Lande al­ler­dings, dass es nie mög­lich wird. Ganz auf die­ser Linie liegt, dass das Tor zum Ge­setz offen steht „wie immer“, aber zu­gleich durch den Tür­hü­ter ver­schlos­sen ist. Das ist wi­der­sprüch­lich, ja pa­ra­dox. Eine Sache kann doch nicht dies und zu­gleich das ge­naue Ge­gen­teil davon sein. […] [Den] selt­sam ver­schwim­men­den Ge­gen­satz zwi­schen Staatlich-​Allgemeinem und Privat-​Individuellem führt uns mi­ni­a­tur­ar­tig auch die Tür­hü­ter­pa­ra­bel vor. Hier ist das Ge­setz, dort der Mann vom Lande, und zwi­schen ihnen eine Tür, die der Mann nie durch­schrei­ben kann, ob­wohl sie immer offen steht. Sie wird durch­läs­sig ge­macht und zu­gleich be­fes­tigt durch den Tür­hü­ter, der dem Mann vom Lande auch noch einen Sche­mel reicht, den die­ser ab nun neben dem Ge­setz be­wohnt. […] Wider jede Er­war­tung hat sich das Staatlich-​Allgemeine in­di­vi­du­a­li­siert und dem Mann von Lande einen nur be­stimm­ten Ein­gang zu­ge­wie­sen, und den­noch durch­schrei­tet der Mann die Tür sein gan­zes Leben lang nicht. Das ist nicht nur pa­ra­dox, son­dern auch bit­ter. Denn der Mann vom Lande hat doch alles ver­sucht, und der Tür­hü­ter hat an­schei­nend nur seine Pflicht getan. Genau diese Ver­geb­lich­keit ent­spricht al­ler­dings den Ent­täu­schun­gen, die viele Men­schen er­le­ben, wenn sie das Recht su­chen.











[4] Der ent­schei­den­de Kno­ten­punkt des Tex­tes ist die Ver­knüp­fung der Frage des schon ster­ben­den Man­nes vom Lande: „Alle stre­ben doch nach dem Ge­setz, wieso kommt es, daß in den vie­len Jah­ren nie­mand außer mir Ein­laß ver­langt hat?“ mit der Aus­kunft des Tür­hü­ters: „Hier konn­te nie­mand sonst Ein­laß er­hal­ten, denn die­ser Ein­gang war nur für dich be­stimmt. Ich gehe jetzt und schlie­ße ihn.“ Die Aus­kunft des Tür­hü­ters setzt alle Vor­aus­set­zun­gen außer Kraft, unter denen die Le­gen­de bis dahin stand: Von an­de­ren Ein­gän­gen war nicht die Rede und daß nie­mand sonst zu die­sem Ein­gang kam [sic] müßte ja be­deu­ten, daß die an­de­ren die Zu­ord­nung die­ses Ein­gan­ges zu die­ser Per­son (die oben­drein als In­di­vi­du­um gar nicht in Er­schei­nung trat), schon von wei­tem hät­ten er­ken­nen müs­sen, was die Frage auf­wer­fen würde, warum der Mann vom Lande diese Zu­ord­nung nicht er­kannt hat. Oder der Tür­hü­ter spielt seine Rolle wei­ter, auch als er „er­kennt, daß der Mann schon an sei­nem Ende ist“. Wen die Aus­kunft des Tür­hü­ters ge­gen­über dem Ster­ben­den die blan­ke Wahr­heit wäre, wenn jeder sein ei­ge­nes, ge­öff­ne­tes Tor zum Ge­setz hätte, dann hätte der Tür­hü­ter keine wirk­li­che Funk­ti­on mehr als nur die rein ne­ga­ti­ve, dem Ein­zel­nen den Zu­gang dro­hen zu ver­sper­ren. Dann wäre die Ge­samt­pro­ble­ma­tik eine rein in­di­vi­du­el­le und der Sinn von Ge­setz und Läu­te­rung ver­lo­ren. Der Zu­tritt zum Ge­setz wäre zu einer Art Mut­pro­be ver­kom­men.





















Aus­zü­ge aus:



[1] Bin­der, Hart­mut (1993): Vor dem Ge­setz. Ein­füh­rung in Kaf­kas Welt. Stutt­gart, Wei­mar: Metz­ler, S. 237.



[2] Esch­wei­ler, Chris­ti­an (2005): Franz Kafka und sein Roman-​Fragment Der Pro­zess. Neu ge­ord­net er­gänzt er­läu­tert. Wei­ler­swist: Land­pres­se, S. 174.



[3] Pöschl, Mag­da­le­na (2019): „‚Die­ser Ein­gang war nur für dich be­stimmt‘“, in: Be­ze­mek, Chris­toph (Hrsg.): Vor dem Ge­setz. Rechts­wis­sen­schaft­li­che Per­spek­ti­ven zu Franz Kaf­kas „Tür­hü­ter­le­gen­de“. Wien: MANZ, S. 37–39.



[4] Voigts, Man­fred (1994): „Von Tür­hü­tern und von Män­nern vom Lande, Tra­di­ti­o­nen und Quel­len zu Kaf­kas Vor dem Ge­setz“, in: Ders. (Hrsg.): Franz Kafka ‚Vor dem Ge­setz‘. Auf­sät­ze und Ma­te­ri­a­li­en. Würz­burg: Kö­nigs­hau­sen und Neu­mann, S. 116f.

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